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Kultur und Identität

Michael Seibel • Protokoll vom 16.3.2016   (Last Update: 04.04.2016)

Mit vergleichsweise grober Axt haben wir den Begriff der Kulturellen Identität in zwei Teile zerlegt. Zwei Begriffe sind zusammen: Kultur und Identität.

Beim Begriff Kultur war die Absicht, etwas von den zahlreichen Bedeutungsschichten zu erinnern und wieder hervorzuziehen, die auf dem liegen, was sich dann erst sehr spät zum lexikalischen Begriff Kultur verselbständigt hat. Diese Begriffsgeschichte ist offensichtlich ebenso eine Geschichte innerhalb der Philosophie, der Ethik, der Politik, der Ideologien und der Kritik daran.

Vorstellungen von einer zu schützenden abendländischen Kultur und von einer kulturellen, am Ende gar nationalen Identität, die das Einheimische gegen alles Fremde abgrenzen soll, tun gut daran, mitzudenken, was in solchen Vorstellungen begriffsgeschichtlich anklingt.

Unter Kultur wird vielerlei verstanden: Verhaltenskodizes, Mentalitäten, Lebensformen, Umgangsformen, Insistenz auf Werte und ästhetische Leistungen. Der Kulturbegriff als lexikalischer Eintrag ist vergleichsweise jung. Das Thema hingegen ist alt.



Kultur = Betrug an den Göttern


Platon zeigt uns im Dialog Protagoras den Menschen als Mängelwesen, dem der mythische Prometheus das Feuer und Zeus die Scham schenkt. Die Scham deshalb, weil das politische Zusammenleben ein Mindestmaß an Tugend und Anstand braucht um zu gelingen.

In Kultur betreibt und bewältigt der Mensch nach diesem Verständnis nichts anderes als seine Mangel-Natur. Es steckt also ein Stück Angst im Feiertagslob auf Kulturleistungen. Das sollten wir nicht vergessen. Es redet sozusagen der Zwerg und nicht der Riese, wenn von Kultur die Rede ist.

Kultur ist Betrug an den Göttern und zugleich ein Stück Überwindung der eigenen Natur des Menschen durch den Menschen, ein ewig schuldbelasteter Fortschrittsdrang. Eine stets sprudelnde Quelle der Geschichte des Kulturbegriffs ist die dichotomische Gegenüberstellung von Kultur und Natur. Das Begriffspaar Kultur – Natur gehört zu den großen dichotomischen Konstrukten der Philosophie; so wie Leib-Seele, Körper-Geist und Gott-Welt. Alle drei sind sozusagen Begriffspaare mit Soll-Bruchstelle und einem Rettungsversprechen, dass Unterwerfung fordert, des Leibes unter die Seele, des Körpers unter den Geist, der Welt und des Menschen unter Gott und der Natur unter die Kultur.

Letztlich Unabgrenzbar - Kultur und Natur


Nun stellt sich allerdings heraus: Je mehr auf Kulturvorstellungen insistiert wird, um so weniger abgrenzbar erweist sich Kultur gegenüber Natur. Was ist menschliche Tat, was widerfährt bloß, was gehört zum Gegebenem, was zum Plan, wie viel von beidem steckt schließlich im Arbeitsergebnis? Ursprünglich dachte man an Landwirtschaft. Was an der Ernte ist kultivierende Tätigkeit, was bloß kultiviertes Wachstum der Pflanze selbst?

Wenn Kultur Befreiung vom eigenen Mangel ist, ist natürlich zu fragen, ob der Mangel wirklich aus der Natur zum Menschen kommt oder nicht vielmehr vom Mitmenschen. Denn Kultur ist offenbar nicht nur Medium von Selbstgestaltung, sondern auch von Fremdbestimmung.

Vorstellung des Übergangs des Menschen und der Menschheit insgesamt von einem Natur- in einen Kulturzustand prägen den Begriff Kultur, sei es durch die Entwicklung eines Volkes, das seine vermeintlichen historischen Möglichkeiten entfaltet, sei es durch der Entwicklung eines einzelnen Menschen, der seine Talente entfaltet, sei es von Teilbereichen des Zusammenlebens wie der Moral, der Kunst, der Sitten und Gebräuche, der Umgangsformen in einer Gesellschaft. Man sieht, wie versucht wird, von Mangelvorstellungen wegzukommen und an deren Stelle die Vorstellung von Möglichkeiten zu stellen, die sich entfalten lassen. Es ist nicht das selbe, von etwas zu sagen, es sei ein Wesen voller Mängel oder zu sagen, es sei ein Wesen voller Talente.



Kultur und Moral


Kultur als eigenständiger Begriff taucht erst spät, Ende des 18. Jahrhunderts, zwischen Kant und Herder (›Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit‹) auf. Die Kultur des Menschen erscheint als die Welt des frei geformten Handelns und Lebens, für die der Mensch allein verantwortlich ist. In Kultur tritt Moralität an die Stelle der „ungeselligen Geselligkeit des Menschen“ (Kant) Kultur hat für Kant einen moralischen Kern, aber darüber hinaus auch zeitgebundene Ausprägungen, »eine gewisse Art von Kultur, zu der »Manieren, Artigkeit und eine gewisse Klugheit erforderlich« sind. Kant spricht in dieser Hinsicht von Zivilisierung.
»Die Zivilisierung gibt ihm (dem Menschen) etwas Gesittetes und also Geschmack«.

Affirmation – Kultur als Natur


Wo Kant aus dem zweckgeleiteten Handeln – und letztlich aus seinem Ideal des moralisch begründeten Handelns – Kategorien zur Bestimmung des Kulturbegriffs gewinnt, sucht Herder sie durch den Vergleich mit der Natur, ihrem Wachsen, Blühen, Fruchtbringen und Vergehen zu finden. Die Kultur ist als ›höhere Natur‹ nicht das vom Menschen planmäßig Bewirkte, sondern das in der Geschichte der Menschheit Gewachsene: und zwar zunächst als Lebensform von Völkern, in denen sich die allgemeine menschliche Humanität entfaltet.

Von Mangelbewältigung ist hier nicht mehr die Rede. Verklärung zieht auf.

Kultur - ein Wertbegriff


In beiden Fällen, bei Kant und Herder, wird Kultur vom Ideen-Paar Vernunft-Natur, bzw. Kultur-Natur aus gedacht, also innerhalb der langen Kette des abendländischen Denkens seit der Antike. Kultur ist demnach ein Wertbegriff.

Rousseau dreht die Verhältnisse nur um. Natur erscheint als Wert, Kultur als Unwert und Kulturentwicklung als Sittenverfall.
Für Nietzsche ist Kultur die Tierzähmung des Menschen. Nietzsche beansprucht zwar, in seiner Methode der Genealogie die unkritische Bindung an einen Kulturbegriff, der jedem Leben zu unterlegen ist, an ein Ideal hinter sich gelassen zu haben, aber sein Kulturbegriff bleibt ein Wertbegriff. Das ist gerade seine Stärke.
Im Grunde sind Denker wie Adorno (Auschwitz als negativer Kulminationspunkt von Kultur) und Marcuse (Kritik an der affirmativen Kulturindustrie) Nachfolger dieser Art des bewusst wertenden Denkens im 20. Jahrhundert.

Zweifellos wird der Kulturbegriff im 20. Jahrhundert weiterentwickelt. Frage ist allerdings, ob dabei nicht der Wertaspekt, die ethische Seite des Begriff, bei vielen Denkern auf der Strecke bleibt, und ob nicht diese Begriffsvertrocknung einer der Gründe ist, warum seit Ende des 19. Jahrhunderts Ideologien mit dem Wort Kultur ziemlich alles machen können, was sie wollen und sich Kultur so ziemlich vor jeden Karren spannen lässt, z.B. um Juden oder ganz generell den Feind, den Fremden, den Ausländer auszugrenzen und radikal zu entwerten.

im 20. Jahrhundert


Als einen Versuch, im 20. Jahrhundert die Unhintergehbarkeit von Ideen hinter sich zu lassen, kann man Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen ansehen. Er kommt zu erkenntnisbezogenen Charakteristika der menschlichen Kultur: die Entwicklung einer Pluralität koexistierender symbolischer Formen und Symbolsysteme, mit denen Menschen repräsentieren und reflektieren, was sie tun. Diese pluralistische Einstellung verhindert aber nicht die Suche nach etwas, das allen Kulturen gemeinsam ist:

»Denn es ist letzten Endes ›derselbe‹ Mensch, der uns in tausend Offenbarungen und in tausend Masken in der Entwicklung in der Kultur immer wieder entgegentritt. Dieser Identität werden wir uns nicht beobachtend, wägend und messend bewusst; und ebensowenig erschließen wir sie aus psychologischen Induktionen. Sie kann sich nicht anders als durch die Tat beweisen. Eine Kultur wird uns nur zugänglich, indem wir aktiv in sie eingehen; und dieses Eingehen ist nicht an die unmittelbare Gegenwart gebunden.«

Die Philosophie der symbolischen Formen zielt auf die Gesamtheit der Kultur, »den ganzen Kreis des ›Weltverstehens‹«, und zwar nicht von der »Einheit des Objekts« ausgehend, sondern von der »Einheit der Funktion«. Die symbolischen Formen – Mythos, Religion, Kunst, Wissenschaft u. a. – haben die Funktion von ›Indices‹ der »Brechungen, die das in sich einheitliche und einzigartige Sein erfährt, sobald es vom ›Subjekt‹ her aufgefasst und angeeignet wird«.

Als charakteristisch für eine zweite Hauptentwicklung im Nachdenken über Kultur im 20. Jahrhundert möchte ich die ethnologische Arbeit von Bronisław Malinowski, etwa in Argonauts of the Western Pacific gegenüberstellen. Malinowki beschreibt hier ein Gabentausch-System mit verzögerter Wechselseitigkeit bei den Bewohnern der pazifischen Trobriand-Inseln. Er versucht zu einem handlungsbezogen und vor allem zu einem nicht eurozentrischen Kulturbegriff zu kommen. Ich beschränke mich auf die Wikipedia-Darstellung:

»Diese melanesischen Inseln sind fast kreisformig angeordnet, zwischen ihnen werden im Uhrzeigersinn soulava getauscht, Halsketten aus kleinen roten Muschelplättchen. In die andere Richtung, gegen den Uhrzeigersinn, werden mwali getauscht, Armbänder aus einem weißen Muschelring. Alle Gaben müssen nach einiger Zeit weitergetauscht werden.

Das Wort Kula bedeutet ein rituelles Tausch- und Prestigeobjekt ohne unmittelbaren Nutzen für den Empfänger. Mit dem Erhalt einer Gabe ist die Verpflichtung verbunden, innerhalb eines bestimmten Zeitraumes dem Gebenden etwas Entsprechendes zu schenken. Die soziale Funktion dieses komplexen, nicht gewinnorientierten Austauschhandels besteht darin, die sozialen Bande zwischen den herrschaftsfrei miteinander verbundenen Trobriandern zu verstärken und realen Gütertausch rituell zu begleiten. Geber und Nehmer stehen dabei in einer ständigen (vererbbaren) Position des Gastfreundes zueinander.«


Um dem Begriff Kultur einen konkreten Inhalt zu geben, ist für den Ethnologen Malinowski wesentlich, konkretes Verhalten zu beschreiben und nicht von einer Idee auszugehen, die sich in ganz unterschiedlichem Verhalten einmal mehr und einmal weniger wiederfindet.
Aber man sieht: bewerten lässt sich hier gar nicht. Würden sich die Bewohner Trobriand-Inseln mit ihren Nachbarn anders oder überhaupt nicht austauschen, dann wäre das nicht besser oder schlechter, sondern einfach nur anders.

Mir scheint festzuhalten, dass jemand, der nicht völlig auf den Kopf befallen ist, aufmerken sollte, wenn heutzutage im Zusammenhang mit dem Kulturbegriff Wertungen vergeben werden, die rein affirmativ sind (Motto: die eigene Kultur ist reine positive Leistung) und die den Mangelaspekt auf ein Außen übertragen, dass sodann ausgeschlossen werden soll (Motto: das Fremde soll draußen bleiben, denn es gefährdet diese reine Positivität). Solche Versuche gibt es in vielerlei Gewand ständig. Die liberale Variante davon, die auf den ersten Blick fortschrittlicher und humaner wirkt, es aber durchaus aus der Nähe betrachtet nicht sein muss, geht folgendermaßen: wir schließen das Fremde nicht aus, sondern tauschen uns damit aus, denn Kultur, das ist so etwas wie ein Organismus. Bei einer so verstandenen Kultur zählt das Fremde, sobald es nicht dient, letztlich ebenso nichts.

Soviel zum Kulturbegriff. Nun zu dem der Identität.





Szenen aus: Eric Duvivier, La Femme 100 Tetes, 1967, nach Motiven von Max Ernst (1924)

Wittgenstein über Identität


Vielleicht beginnt man das Nachdenken über Identität mit der äußerst kritischen Bemerkung von Wittgenstein (Tractatus 5.5303) um sich zu erinnern, dass Identität ganz und gar nichts selbstverstädnlich sinnvolles ist:
„Von zwei Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist ein Unsinn, und von Einem zu sagen, es sei identisch mit sich selbst, sagt gar nichts.“

Ist also die Frage nach Identität letztlich nichts als eine Mystifikation? Und wenn ja von was?

Gleichheit und Identität


Was sind demgegenüber mögliche Motive, aus denen mit Identität argumentiert wird? Im Rahmen der Mathematik ist an den Unterschied zwischen Gleichheit und Identität zu erinnern. A1 = A2 ist eine Gleichung. Sowohl der Wert von A1 als auch der Wert von A2 sollen in der Menge der rationalen Zahlen enthalten sein. Die Gleichung A1 = A2 kann also richtig oder falsch sein, je nachdem ob der gleiche Wert für A1 und A2 eingesetzt wird.

Das Zeichen ≡ hingegen bezeichnet nicht die Gleichheit, sondern die Identität. In (x+a)2≡ (x2+2ax+a2) können a und x beliebige Werte annehmen, ohne dass die Gleichung (x+a)2= (x2+2ax+a2) falsch würde.

In der Mathematik ist es also sinnvoll, von Identität zu reden, weil es z.B. einen spezifischen Unterschied von Identität und Gleichheit gibt (und sicher aus anderen Gründen, die sich mir als Nicht-Mathematiker entziehen).

Ein gewöhnliches Gleichheitszeichen zeigt an, dass unter bestimmten Voraussetzungen (im Definitionsrahmen) Gleichheit besteht. Identität bedeutet dagegen die voraussetzungslose Übereinstimmung zweier Entitäten.

Besonders beeindruckt stehe ich vor der Eulerschen Identität eiπ+1=0, bringt sie doch vier ganz basale mathematische Konstanten, die eulersche Zahl e (Basis des natürlichen Logarithmus), die Kreiszahl π, die imaginären Einheit i, die reelle Einheit 1 und die 0 in ein Gleichheitsverhältnis.

Ich werden vermutlich mein Leben lang diese unerschütterliche Ordnung bestaunen.





Identität als Wertung in der Philosophie


Der Begriff wird offenbar da aussagekräftig und bekommt Inhalt, wo er eine Relation bezeichnet und eine Unterscheidung zu etwas Differentem trifft. In der Philosophie war damit bis ins 19. Jahrhundert oft eine Wertung verbunden, wonach das Identische mehr wert ist als das Nicht-Identischem gegen das es sich abgrenzt. Das muss aber nicht so sein. In der Mathematik ist es offenbar nicht der Fall, dass Gleichheit mehr wert wäre als Ungleichheit oder Gleichheit weniger als Identität.

Die Philosophie stellt vielleicht sogar heute mehr denn je Wertfragen, wenn über Identität nachgedacht wird und wenn sie nicht wie Teile der angelsächsischen Philosophie gerade wieder kalte Füße vor dieser Frage hat. Heute bezeichnet der Begriff der Identität in der Philosophie viel eher eine offene Frage und ein ungelöstes Problem als in der Romantik, in der er eher wie eine Kompassnadel die sichere Richtung anzeigte, in der die Antwort auf Wertfragen aus der Eigendynamik der Vernunft heraus zu finden sei (so bei Hegel: das Absolute als Identität der Identität und des Unterschieds).

Identität zu Beginn der Moderne


Die Philosophie diskutierte Identität oft als Erkenntnisbedingung oder subjektive, personale Identität oder vor dem Hintergrund der Relevanz von Fremdheit.

Zur frühen neuzeitlichen Arbeit am Begriff der Identität in der Philosophie hier nur zwei Beispiele:

„Werden in diesem Schiff nach und nach alle Planken durch neue ersetzt, dann ist es numerisch dasselbe Schiff geblieben; hätte aber jemand die herausgenommenen alten Planken aufbewahrt und sie schließlich sämtlich in gleicher Richtung wieder zusammengefügt und aus ihnen ein Schiff gebaut, so wäre ohne Zweifel auch dieses Schiff numerisch dasselbe Schiff wie das ursprüngliche. Wir hätten dann zwei numerisch identische Schiffe, was absurd ist.“ T. Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Erster Teil. Lehre vom Körper

John Locke: die Identität einer Person reicht so weit wie das Bewusstsein eigener Gedanken und Handlungen. (›memory theory‹). Grundsätzliche These: das Bewusstsein der eigenen Vergangenheit bestimmt die eigene Identität.
Heute wird zumeist bestritten, dass das Bewusstsein Grundlage von Identität ist.
Heute auch: personale Identität in der praktischen Philosophie - Verhaltensbewertungen über die Zeit hinweg und ihre Auswirkungen auf die Lebensgestaltung von Personen (z.B. bei Harry Frankfurt)



Stichworte zum Thema Identität aus anderen Bereichen:


Psychologie (sexuelle Identität, Selbstwert, Bedeutung von Selbstbildern)
Pädagogik (Entwicklungsmöglichkeiten von Identität)
Sozialwissenschaften (Voraussetzungen für Identitätskonzepte, Begleiterscheinungen des kulturellen und sozialen Wandels)
Kulturwissenschaften (symbolische oder machtspezifische Zusammenhänge von Identitätsmustern und Lebenslagen)


Administration/Polizei
Pseudonym/Fälschung
Gleichheit vor dem Gesetz


Politik (kulturelle Identität) macht vom Begriff oft einen ideologischen Gebrauch. Beispiel: Samuel P. Huntington (The clash of civilisation and the remaking of world order) »Konflikte von Zivilisationen sind die größte Gefahr für den Weltfrieden, und eine auf Zivilisationen basierende internationale Ordnung ist der sicherste Schutz vor einem Weltkrieg.« )

Amartya Sen nennt es "Identitätsfalle": Es scheint, so Sen, nur dann einen "Krieg der Kulturen" zwischen dem Westen und dem Islam zu geben, wenn man das, was die Identität eines Menschen ausmacht, extrem auf bestimmte Einzelaspekte zusammenstutzt. Wer die Welt in Blöcke aus Religionen aufteilt, unterschlägt andere prägende Faktoren des Daseins wie Geschlecht, Bildung, Beruf, Sprache, soziale Klasse und persönliche Bindungen, Verwandtschaften etc.. Daher scheint es eine unzulässige Reduktion zu sein, kulturelle auf religiöse Identität zu reduzieren. Wenn die Beziehungen zwischen menschlichen Individuen auf einen "Krieg der Kulturen" reduziert werden, dann schnappt, wie Sen sagt, die "Identitätsfalle" zu. Existenz wird „miniaturisiert“. Das wird, so Sen, oft zum Beginn einer Gewaltspirale, die sich anders, als ihre Ideologen behaupten, durchaus stoppen lässt.

Identität als (kognitives) Selbstbild, als habituelle Prägung, als soziale Rolle oder Zuschreibung, als performative Leistung, als konstruierte Erzählung
Identitätsfragen auch als Symptome für kulturelle Umbruchsituationen (Bindungen und Zugehörigkeiten)

Ist Identität eine Kategorie, die Statik oder Dynamik ausdrückt, etwas, das ständig neu hergestellt werden muss oder etwas, das besteht, wenn es einmal entstanden ist und vor Zerstörung bewahrt werden muss?

Gedankenmaterial

Identität als anthropologisches Modell: Hiermit ist gemeint, dass Identität auf Gedanken, Bilder, Gefühle, Gedächtnis, soziale Bezüge und Handlungen abheben muss. Selbstkonzepte, Selbstwertgefühle, Narrationen, Kollektivvorstellungen und Handlungskonzepte gehen in diese Form von Identität mit ein.

Identität als strukturelle Form: Identität als Kern, Einheit, Kohärenz, Konstanz, Kontinuität, Integrität, Authentizität, Konsistenz etc. bezeichnen ebenso spezifische Fassungen des Selbst wie die vielfältige, patchwork- oder quiltartige, fragmentarisierte, flexibilisierte, diffuse, unübersichtliche etc. Ich-Identität.

Identität als Norm: Eng mit der strukturellen Fassung von Identität ist ihre normative Positionierung als gelungene oder richtige Identität. Identität wird hier in Zusammenhang gebracht mit (einem Gewinn an): Autonomie, Gesundheit, Glück, Zivilität, Normalität, Harmonie, Balance, Kommunikationsfähigkeit, Reife, Erwachsensein etc.

Identität als Normierung: Normalität als das Unerreichbare, Identitätsterror, Disziplinierung und Kontrolle, Einheitssehnsucht, Hierarchisierungen

Identität als Kompetenz: Urvertrauen, Perspektivenübernahmen, Empathie, Rollendistanz, Ambivalenztoleranzen, ökonomische, kulturelle und soziale Ressourcen (Bourdieu) der Identitätsarbeit sowie der sense of coherence (Antonovsky)

Identität als Prozess: zeitliche Vorstellungen, was das Individuum in der Vergangenheit war, wie es sich aktuell sieht und in der Zukunft sein wird.



und auch ...

Identität als Krisensymptom: Pluralität, Risikogesellschaft, Individualisierung, Virtualisierung, Rationalisierung, Unübersichtlichkeit, Enttraditionalisierung, Säkularisierung, Auflösung gemeinschaftlicher Bindungen Frage nach Zugehörigkeitsverhältnisse, Anerkennungsprinzipien, Teilhabemöglichkeiten und Differenzierungspraktiken

„Deine Identität liegt einfach dort, wo du beschließt, mit dem Denken aufzuhören.“ (Philipp Roth im Roman Gegenleben)

Fragen, die man sich alltäglich selbst beantwortet: Was würde man sagen, wenn man sich selbst fragt: Wer bin ich? Und was antwortet man, wenn man von anderen gefragt wird: Wer bist du? - Beides hängt offenbar eng zusammen. Und ist vielleicht doch nicht das selbe. Oder?

So eingeführt abschließend einige Passagen aus Jean Luc Nancy, Identität, Fragmente, Freimütigkeiten, Passagen-Verlag, 2009 zur Anregung:
S. 38f.:
»„Werde, der du bist!“ Das ist sehr gut gesagt: Du bist nicht, was du bist, du hast es zu werden und nichts ist dir gegeben dafür, weil das, was du bist, nirgends anders ist als am Ende deines Werdens. Und an diesem Ende wirst du auch nicht sein. Und dennoch weißt du, dass eine Linie von der ersten zur letzten Abwesenheit gezogen in, eine Existenzlinie, die dir eigens, absolut, ausschließlich zukommt. Ich kann mich nicht zurückhalten, dies anzumerken: Ich schreibe diese Zeilen ein paar Tage nach dem Schweizer Votum, das die Errichtung neuer Minarette auf dem helvetischen Staatsgebiet Verbietet — bis jetzt gab es nur vier... Ich sage mir, böse: Der Schweizer identifiziert sich mit seinen Kirchtürmen, mit allen Gipfeln und Nadeln seiner beeindruckenden Bergmassive, vielleicht auch mit seinem Alpenstock, ja mit dem spitzen Hut von Wilhelm Tell und mit dem Apfel auf dem Kopf des Sohnes, das reicht ihm, genug der Erhebungen, genug Fingerzeige in den Himmel. Bleiben wir unter uns mit unseren Erhabenheiten. Der Schweizer hat seiner Identität einen fürchterlichen Schlag versetzt: Er verschließt sie, er sperrt sie durch eine Geste ab, die sich — lauthals oder leise — auf nichts anderes beruft, als auf das, was ich gerade gesagt habe.

Der Schweizer ist nicht der Einzige, obwohl er in dieser Stunde das spektakulärste Beispiel einer Identitätsabschottung bietet, die keinesfalls zu werden hat, was sie ist, denn sie ist es, sie weiß es, sie ist es und sie hat es, sie ‚ hat in sich und für sich, außerhalb jeder moslemischen Wucherung, eine vollkommene Fülle.

Aber wenn eine Identität sich in und als die Bewegung realisiert, durch die sie sich auf das zubewegt‚ was sie niemals auf das Identische reduzieren wird, oder um es so zu sagen, wenn eine wahrhafte Identität nicht eine Identität an sich ist, sondern eine Identität für sich, dann bedeutet das, dass keine Identität „an sich“ gegeben ist — niemals, weder in einem Embryo, noch in einem Sterbenden „wie er endlich in sich selbst ist..."‚ noch in einem Mann oder in einer Frau in der Fülle seines/ ihres Ausdrucks —, und dass die Identität immer ein Für-sich-Sein ist. Ein solches Für-sich—Sein, welches das macht und zu sich kommen lässt, was es keinen Grund hat als das „Seine“ vorauszusetzen, das es aber wird, weil er — der „Identifizierende“ — es zu Seinem macht.

Und die demokratische Politik bedeutet das Eine, dass jeder Möglichkeit der Identität (der persönlichen, kollektiven oder beider zugleich, auch das ist nicht an sich als unterschieden gegeben) der Raum geöffnet wird, in dem sie ihre Linien der Identifizierung ziehen, entfalten und verzweigen kann.«

S. 42f:
»Die Selbigkeit‚ die die Identität ins Spiel bringt, ist eine Selbigkeit, die nicht aufs Selbe hinausläuft, weil „sie selbst“ nicht bereits gegeben ist und es niemals endgültig sein wird. Man könnte sagen, dass die Identität die ewige Wiederkehr des Gleichen vollbringt, von der Nietzsche sprach: eine Wiederkehr, die nicht Wiederaufnahme und Wiederholung ist, sondern unendliche Wiederkehr zum absolut Unterschiedlichen, dessen absoluter Unterschied die Selbigkeit ausmacht.

Wer könnte also von Identität sprechen — einer Person oder eines Volkes? Von außen kann man nur Unterscheidungsmerkmale, interessante oder wichtige Eigenschaften erfassen, die jedoch niemals das idem liefern werden. Von innen kann man ein großes Talent für die Innenschau haben, aber das erste und letzte Wissen bleibt, dass es nichts zu wissen gibt. Nichts, außer ein „Eines“. Dieses „Eine“ bleibt unbezweifelbar, aber seine absolute Einheit löst sich im infinitesimalen Punkt seiner Herkunft und seines Ziels auf. „Verkenne dich selbst!“

Was zeichnet einen sehr großen Schriftsteller in Sachen Identität aus? Dass man niemals vorgeben kann, die letzte Identität seiner Figuren entdeckt zu haben. Denken Sie an James, an Proust, an Faulkner! Ein schlechter Schriftsteller hingegen hat identifizierte Identitäten vor sich, noch bevor er anfängt.«

S. 75:
»Nein, die Identität ist nicht isolierbar wie ein Destillat. Sie ist für ein Volk wie für eine Person immer bloß ein ausgestreckter Zeigefinger gewesen - der Zeiger des Namens — in die Richtung dessen, was kommt, Was nicht aufhört zu kommen, was wiederkommt und sich verändert, neue Wege bahnt, Spuren hinterlässt, aber sie war niemals eine Sache noch eine Einheit des Sinns. Sie kommt von unendlich weit her, weil sie vor jeder Art von möglicher Identifizierung kommt - ja, Ähnlichkeiten erscheinen manchmal durch das Spiel der Verwandtschaften, aber sie bestätigen bloß den unendlichen Abstand des Unterscheidungspunktes in jedem. Die Zwillinge wissen das. Im Allgemeinen würde eine Identität, die fähig wäre, sich zu identifizieren, dem Wahnsinn verfallen. Es gibt Pathologien von Zwillingen, oder Paranoia gesättigter Identifizierung.«

S. 76: »Die Aneignung der Identität kann nicht eine Inbesitznahme sein, weder die eines Gutes, dessen ich mich bemächtige, noch die eines Gutes, das ich empfange. Nur die Identität der Chefs fällt immer mehr oder weniger in den Bereich der zwei Fälle. Aber der Chef ist weder der Mensch noch das Volk: Er ist der Statthalter gerade dessen, was weder gezeigt noch angeeignet werden kann.«

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